[home]
WoZ-Online
14.6.2001

Von gefälschten Websites
und fahrenden Hochstaplern


Roberto Simanowski

Hinweis für PC-UserInnen:
Verwenden Sie zum Ausdrucken unserer Artikel bitte den Internet Explorer, Netscape unter Windows legt sich quer.
Während im Literaturbetrieb das Ende der genauso apolitischen wie selbstinszenatorischen Popkultur ausgerufen wird, gibt es im Internet einen Politpop, der mit bösen Mitteln gute Werke tut: Es geht um Hochstapelei im Dienste der Aufklärung, sie dient der Vermittlung von Medienkompetenz und der Erziehung zum Misstrauen.

Während in der Sprachwissenschaft als kleinstes bedeutungsunterscheidendes Zeichen das Phonem gilt, ist dies im Internet eher das S oder der Bindestrich. Denn das Plural-S und der Bindestrich haben völlig gegensätzliche Aussagen zur Folge, und zwar dann, wenn sie im URL stehen, der Adresse, die man eingibt, um zu einer bestimmten Website zu gelangen. Oft sind die Ergebnisse gar nicht so gegensätzlich, wie im Falle www.auto.de und www.autos.de, oft aber doch, wie bei www.car.com und www.cars.com, wo Ersteres zu Carter Wallace führt, dem Vertreiber von Zahnpoliercreme und Amerikas Kondom Nummer eins, und erst Letztere zu dem, was man schon unter der ersten Adresse erwartete. Unter www.lifestyle.de stösst man wie erwartet auf eine Beauty-Homepage mit Fitness-, Styling-, Stil-, Typ- usw. Beratung. Probiert man hier den Plural, sieht man, dass der Domain-Name vergeben ist, die Website aber noch nicht aufgebaut wurde. Man fragt sich, wer da in der Nähe des Beautyshops wohnen will; eine gute Wohnlage ist es zweifellos.
Die inhaltliche Nachbarschaft ist freilich mitunter recht lose, wie die Kommunikation und Webdesign GmbH & Co. KG zeigt, die sich unter www.life-style.de angesiedelt hat, und wie noch viel mehr Udo Weissenfels belegt, der unter www.livestyle.de Vertriebspartner für ein Lottosystem sucht. In diesem Falle ist www.livestyle.de übrigens nur eine Fängerseite für Besucher mit schlechtem Englisch, der Klick führt dann zur Site www.lottoteam.com, wo von Livestyle, sei es mit v oder f, nicht mehr die Rede ist. Andere bauen weniger auf mangelnde Rechtschreibkenntnisse als auf Tippfehler, womit die Nachbarschaft eine der Buchstaben auf der Tastatur ist. Ohne Frage, gern siedelt man sich in der Nähe viel besuchter Websites an, die Hauptstrassenlage zahlt sich auch im Netz aus.
Dass der Tippfehler auch geschäftsschädigend sein kann, zeigte sich, als der amerikanische Spielzeugkonzern www.etoys.com vor Gericht die Schliessung der viel früher angemeldeten Domain der Künstlergruppe www.etoy.com beantragte, weil dort martialisch anmutende Männer Sprüche und Bilder präsentierten, die jeden Spielzeugkunden so verschrecken mussten, dass er nie wieder auch nur in die Nähe dieser Domain gehen würde. Etoys setzte die Schliessung der geschäftsschädigenden Domain bekanntlich durch und ging – denn die Rache der Netzgemeinde war bitter – daran schliesslich zugrunde. Die WoZ hat früh die Ereignisse dieser modernen David-und-Goliath-Geschichte erzählt.
Geschäftsschädigend ist es übrigens auch, wenn man nur mal so mit Webadressen hantiert, weil das Medium gerade «in» ist. So geschehen im Sommer 2000, als C&A auf Kinder-T-Shirts einen URL drucken liess, um cool zu wirken und seinen minderjährigen Käufern etwas davon abzugeben. Die zeigten sich allerdings informierter als der Bekleidungskonzern und wussten im Gegensatz zu dessen PR-Manager, dass man so was im Web auch tatsächlich aufsuchen kann. Sie stiessen auf eine Schwulen-Hardcore-Site. Es folgten Entrüstungen, Entschuldigungen, schlechte Presse und Rückrufaktionen. Abgesehen davon, dass sich C&A nun plötzlich zu den ungewohnten Sexualpraktiken einer Randgruppe verhalten musste, war es freilich peinlich, auf den Hype der neuen Medien zu setzen und dann preiszugeben, wie wenig diese einen interessierten. Welch eine Heuchelei! Aber solche Vorfälle sind nur bodenlose Dummheit, und die Tippfehlergeschichten sind, abgesehen vom Etoy-War, nur Schummelei. Die Lüge sieht anders aus.

Website-Fälschung als Kunst
Was im realen Leben kaum passiert, ist im Netz gar nicht so selten: Jemand baut ein Haus und sagt, es gehöre Herrn Meier oder Frau Schulze. Das Haus beherbergt dann meist einige Gespenster, und die gehen zu Lasten des behaupteten Hausherrn. Man macht für jemand anderes die Website, um diesem zu schaden oder ihn herauszufordern. Genau dies geschah im April, als man unter www.bmdi.de erfuhr, dass das Bundesministerium das «Naziline»-Projekt des Berliner Aktionskünstlers Christoph Schlingensief unterstützte, der in Zürich mit Neonazis den «Hamlet» inszenierte und so Resozialisierung mit den Mitteln des Theaters durchführen wollte. Die Website zum Projekt heisst www.naziline.com, dort stand die Meldung zuerst und von dort führte der Link zu www.bmdi.de, wo sie bestätigt wurde. Falsch ist sie trotzdem, denn die richtige Website des Bundesministeriums befindet sich unter www.bmi.bund.de. Die Wiener Künstlergruppe «ubermorgen» hatte die eigenwillige Adressierung des Bundesministeriums ausgenutzt und unter dem viel plausibler klingenden URL «bmdi» getreu kopiert, mit Ausnahme freilich des genannten Zusatzes.
Hinter «ubermorgen», das sei gleich verraten, stehen Hans Bernhard und Maria Haas, die zusammen mit Schlingensief naziline.com betreiben. Insofern stand die Aktion natürlich auch im Verdacht der Selbstvermarktung Schlingensiefs im Vorfeld der «Hamlet»-Premiere am 10. Mai, und insofern bleibt ungewiss, wie viel ehrliches Thematisieren darin steckt, dem Bundesministerium des Innern etwas zu unterstellen, was, wenn es auch nicht wahr ist, doch ernsthaft diskutiert werden könnte, nach dem Motto: Warum eigentlich unterstützt das Bundesministerium «Naziline» nur halbherzig? Aber wer sich über diese unverfrorene Selbstvermarktung wundert, hat den Aktionskünstler Schlingensief wohl noch nie in Aktion erlebt und überhaupt die aktuellen Tendenzen des Kulturbetriebs verschlafen. Der wird dann an dieser Stelle auch mit Genugtuung lesen, dass das Bundesministerium sich den Spass verbeten und die Gruppe «ubermorgen» mit Nachdruck und Erfolg auf die Rechtslage aufmerksam gemacht hat. Die hochstaplerische Website www.bmdi.de ist vom Netz, wobei der Sieg des mächtigen Ministeriums nicht verhindern konnte, dass die lügenden Künstler sich mit einer Lüge verabschieden: «Bund mittelständischer deutscher Industrie.bmdi.de» liest man auf www.bmdi.de jetzt und: «Unser Angebot steht in Kürze wieder komplett zur Verfügung. Wenn Sie unsere alte Site suchen, klicken Sie bitte hier» – und «hier» führt dann zur richtigen Site nicht etwa des Bundes mittelständischer deutscher Industrie, sondern des Bundesministeriums des Innern. Screen-shot sei Dank ist der Fake festgehalten und belegt, und so hat Ernst Corinth in seinem Beitrag im Webmagazin «Telepolis» vom 19. April 2001 gezeigt, wie die Seite aussah, ehe die Staatsräson zugriff. Dass im «Telepolis»-Forum zu Corinths Beitrag auch ein Herr Schily auftritt und sich den Vergleich seiner Person mit Stalin verbietet, wird kaum mehr verwundern; denn was ist im Netz schon die Fälschung eines Absenders gegen die Fälschung einer Adresse?
Die von «ubermorgen» unternommene Aktion wagt sich an ein mächtiges Gegenüber, und sie tut dies mit einem reflektierten künstlerischen Konzept als Manifest und Rückendeckung: der Reflexion auf Präsentationsvoraussetzung und Repräsentationsfähigkeit im digitalen Medium. In der Tradition dieser Reflexion steht auch die so genannte Browserkunst, die sich als Gegenspieler zu den Standardbrowsern Netscape Navigator und Internet Explorer versteht und in der einen oder anderen Form auf das aufmerksam macht, was jene unter der Oberfläche versteckt halten. Während aber die Browser nur die verborgene Wahrheit aufdecken, erzählen die anderen dabei auch noch handfeste Lügen. Während es Ersteren an Eigenleben mangelt, das über die Enttarnung hinaus von Interesse wäre, hat die Botschaft im Falle der gefälschten Website einen narrativen Körper: Die Dekonstruktion der grossen Erzählung erfolgt selbst in Form einer Geschichte. Das, was den Fake ausmacht und, wie wir gleich sehen werden, damit auf den vorausgegangenen Fake hinweist, ist deshalb interessant, weil gerade Art und Weise der Lüge den LeserInnen die Augen öffnen soll. Die Wahrheit liegt nicht im Ende des Geschichtenerzählens, sondern im Erzählen der Gegengeschichte. Im Netz erscheint der Gegendiskurs – anders als in traditionell «oppositionellen» Medien – im Schafspelz.

Der gefälschte WTO-Vertreter
Eine der berühmtesten und erfolgreichsten Gegengeschichten ist die gefälschte Website der World Trade Organization. Folgendes war passiert: Die Aktionsgruppe ®Tmark, die übrigens auch im Etoy-War mitmischte und dem Präsidentschaftskandidaten George W. Bush zu einer zweiten, ungewollten Website verhalf, produzierte die Website Gatt.org und übergab diese im März 2000 der Hochstaplergruppe The Yes Men. Die erhielten die E-Mail-Anfrage des Center for International Legal Studies in Salzburg, ob Mike Moore, Generaldirektor der WTO, auf einer Konferenz zur internationalen Rechtsprechung die Perspektive der WTO vorbringen würde. The Yes Men e-mailten im Namen Moores, dass dieser verhindert sei, gern aber Dr. Andreas Bichlbauer aus Wien vorbeischicken würde. Und so fuhr Mr. Bichlbauer nach Salzburg, mit zwei Sicherheitsleuten, die eine «security camera» bei sich trugen, deren Notwendigkeit man leicht plausibel machen konnte; weswegen heute neben den vertrauten Dokumenten auch ein Video-Stream einsehbar ist.
Bichlbauers Vortrag, so The Yes Men, «beschrieb die Ideen und Ziele der WTO doppeldeutig. Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, ineffiziente demokratische Errungenschaften wie freie Wahlen zu ersetzen durch privatwirtschaftlich organisierten Stimmenverkauf durch eine Internetfirma. Keiner der anwesenden Rechtsanwälte fühlte sich von den Ausführungen Dr. Bichlbauers genötigt, Bedenken anzumelden.»
Der Vorschlag des direkten Stimmenkaufs ist in der Tat starker Tobak, aber die Beschreibung des bisher üblichen über Wahlkampagnen und TV vermittelten Stimmenkaufs ist es nicht minder. Am schärfsten aber sind die Herzchen in der Power-Point-Grafik, mit der Bichlbauer den Vorgang erklärt. Was, um alles in der Welt, dachten die Konferenzteilnehmer, als sie die Herzchen sahen!
Nun, so ganz ohne Verdacht blieb man in Salzburg nicht. Der Konferenzorganisator schrieb am nächsten Tag an Moores falschen Sekretär, man sei etwas verwirrt über Bichlbauers Rede gewesen, vor allem was seine Position betrifft, dass die Italiener keine Arbeitsmoral hätten, dass man die Wahlstimmen dem Meistbietenden verkaufen solle und dass es Aufgabe der WTO sei, eine einheitliche Weltkultur zu schaffen. Man sieht, die Nachfragen kommen an der richtigen Stelle, man könnte also beruhigt sein. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
The Yes Men legen noch eins drauf, indem sie einen Zwischenfall erfinden: Am Rande der Veranstaltung wird dem Vertreter der WTO eine Cremetorte ins Gesicht geschlagen. Die falschen Vertreter der WTO nutzen diese Erfindung, um den Konferenzteilnehmern weitere Aussagen für die Website abzuluchsen. Sie wollten, so heisst es im Rundschreiben, klären, ob die Rede irgendeinen Anlass zu einer solchen Reaktion gab. Da die Beute nicht viel bringt, lässt die WTO Mr. Bichlbauer an den Folgen der verdorbenen Torte sterben:
«Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Dr. Andreas Bichlbauer, der im Rahmen der WTO an der CILS-Konferenz in Salzburg am 27. Oktober sprach – vielleicht haben Sie ihn auch persönlich kennen gelernt –, unerwartet verstorben ist. Bichlbauer erlag gestern Verletzungen, die er sich als Folge einer Infektion zugezogen hatte. Die Infektion trat nach einer im Anschluss an seinen Vortrag in sein Gesicht geworfenen Torte auf. Sie verstehen sicher, dass die dringliche Lage es erfordert, jedweden Hinweis zur Aufklärung dieser Tat sofort an uns weiterzugeben. Einziger Anhaltspunkt ist die Spur, die sich aus dem Sachverhalt des ‘Wahlbetrugs’ ergibt. Offensichtlich gab es in Dr. Bichlbauers Vortrag eine Passage, die einen oder mehrere Delegierte erregt haben könnte. Und zwar in einem solchen Mass, dass der oder diejenigen Delegierten, die jetzt die WTO des Aufrufs zum Wahlboykott bezichtigen, sich bis dato weigern, mit uns zu sprechen.»
Die Geschichte nimmt Züge der Trivialdramatik an und prüft deren Brauchbarkeit unter höher Gebildeten. Die – schockiert durch den unerwarteten Tod von Dr. Bichlbauer – senden entsprechende Kondolenzbekundungen und Kommentare. Rechtzeitig vor dem angesetzten Beerdigungstermin wird die Lügengeschichte am 30. November mit einer Aufdeckung abgeschlossen, die selbst wieder eine Lüge ist. Mr. Bichlbauer wird enttarnt, aber die Enttarner bleiben undercover: «Liebe Delegierte, Dr. Bichlbauer, seine ‘Sicherheitsleute’ und sein ‘Kameramann’ gehören, so stellte sich heraus, zu einer Anti-Welthandels-Gruppierung namens ‘The Yes Men’, deren Interessen dem Gegenteil der unsrigen entsprechen. (…) Wir sind im Besitz eines handschriftlichen Briefes, den wir gerne an Interessierte verteilen würden.»
Man bietet Kopien des handschriftlichen Briefes an – als liesse sich damit etwas beweisen! Und damit endet die Geschichte. Der geehrte Leser aber steht nun der Frage gegenüber, was an alledem eigentlich der Wahrheit entspricht – ist es möglich, dass die Herren in Salzburg diesen Schmarren geglaubt haben? Die Herzchen? Und das Bild vom schlafenden Italiener als Faulheitsbeweis? Oder sind wir selbst die Ausgelachten, wenn wir glauben, die anderen hätten einen so offensichtlichen Unsinn geglaubt?

Hermeneutik des Verdachts
Auf die Frage gibt es kaum eine Antwort von aussen. Will man etwa eine E-Mail an The Yes Men senden? Oder an die Herren in Salzburg? Hier steht man plötzlich allein, und keiner sagt einem, was man glauben soll. In dieser Heimatlosigkeit liegt die Hoffnung der Zukunft. Man muss selbst urteilen, muss abwägen, seinen gesunden Menschenverstand zusammennehmen und die innere Logik des Präsentierten prüfen. Man muss genau das Verhalten entwickeln, das es braucht, um heute und in Zukunft als LeserIn zu bestehen. Denn wir leben in einem Zeitalter der Übertreibungen, der mangelhaft geprüften Tatsachen und regelrechten Fälschungen. Der Drang (und Zwang), über eine Sache zu berichten möglichst noch ehe sie überhaupt passiert ist, bringt eine Vernachlässigung der Recherche mit sich, die in den neuen Medien zum Prinzip des «publish now, edit later» führt. Denn online lassen sich Fehler ja auch im Nachhinein und von LeserInnen unbemerkt beseitigen – was zum sonderbaren Umstand einer «umgekehrten Halbwertszeit» führt, wonach die Relevanz eines Beitrages wächst mit dem zeitlichen Abstand von seiner Erstveröffentlichung.
Bei solchen Voraussetzungen und Aussichten muss die LeserInnenschaft schliesslich zum Detektiv werden, muss ihren Blick für das Unglaubliche stärken. Die moderne Lektüre muss auf einer Hermeneutik des Verdachts gründen. Im vorliegenden Falle wäre ein Indiz, das Zweifel aufkommen lässt, zum Beispiel der Brief von Michael Johnson, der auf das Auskunftsersuchen der falschen WTO auf Deutsch antwortete:
«Wegen unerwarteten Gerichtspflichte hier in Amerika habe ich die Sitzung in Salzburg ganz verpasst. Kann deswegen nichts zur Erforschung dieser Schande vermitteln. Mir scheint’s aber, man solle nicht vermuten, es haenge irgendwie mit Dr. Bichlbauers Rede zusammen. Leute, die zu solchen Gewalttaten zurueckgreifen, sind meines Erachtens meistenteils unfaehig sich muendlich auszudruecken oder die Ausdruecke der Anderen weder zu verstehen noch zu bewerten. Ich wuensche dem Herrn Dr. Bichlbauer eine moeglichst schnelle Erholung. Mit besten Gruessen, Michael Johnson».
Dass gerade der, der bei anderen mangelndes Ausdrucksvermögen moniert, selbst nicht der Sprache mächtig ist, ist entweder ungewolltes Resultat der Erfindung des «Beweistextes» durch einen ansonsten ganz gut Deutsch sprechenden Amerikaner, oder es ist als Figurensprache intendiert und damit trivialästhetisch. Wie auch immer, die Echtheit des Dokuments ist zweifelhaft. Und vielleicht ist das ja auch die absichtlich gelegte Fährte, die uns augenzwinkernd sagt: Spätestens hier wirst du uns doch wohl die Gefolgschaft aufkündigen.

Aufklärung als Lüge
Natürlich geben auch die Gegengeschichten wieder nur eine bestimmte Perspektive auf die Dinge wieder. Genau darauf kommt es letztlich aber an. Will man nicht die Fehler einer Ideologiekritik wiederholen, die unfähig ist, ihre eigenen ideologischen Voraussetzungen reflexiv einzuholen, dann darf auch die Gegengeschichte nicht als Wahrheit stehen bleiben. Es geht nicht darum, der WTO nicht mehr zu glauben, aber dafür dem, was uns The Yes Men auf amüsante Weise über die WTO enthüllen. Es geht darum, nicht mehr zu glauben: Skepsis ist erste Bürgerpflicht.
Am Ende der Präsentation der WTO-Geschichte heisst es: «The Yes Men möchten Ubermorgen.com für deren Unterstützung danken, ohne die diese Aktion nicht möglich gewesen wäre.» Damit schliesst sich der Kreis zu Schlingensief und Schily und «Hamlet» in Zürich. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, kann man anfügen, als uns unsere Schulweisheit träumen lässt. Ins Stammbuch der LiteraturlehrerInnen aber würden wir gern schreiben: Es gibt mehr literarische Formen, als es bisherige Schubladen zulassen. Wie soll man die vorliegenden Geschichten nennen? Realfiction? Politische Lügengeschichten? Oder «interventionistisches Cybertheater», wie es Mark Amerika in seiner «Telepolis»-Kolumne «Schreiben als Hacktivismus» in Anlehnung an das politische Strassentheater tut?
Auf jeden Fall handelt es sich um eine hochpolitische Spielart der Aktionskunst, und dies mag man erstaunt und vielleicht auch erfreut zur Kenntnis nehmen angesichts des Abgesangs der Popkultur und speziell der Popliteraten auf das Politische, das in den Büchern der älteren Generation mitunter so bieder-aufklärerisch und moralinsauer daherkommt. Wie schön, dass sich nicht alle nur um sich selbst drehen. Und immerhin: Aufklärung im Gewand der Lüge, und dann noch im Internet, das hat was, das ist beinahe cool genug, um selbst Pop zu sein, Politpop gewissermassen, oder, mit Mark Amerika, Avantpop.

Roberto Simanowski: http://www.dichtung-digital.com/

Linie
[home]
nach oben